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Jens-F. Dwars / Dieter
Hausold / Christiane Schneider / Paul Wellsow
Ein Sokrates der DDR
Nachdenken über Dieter Strützel (1935-1999)
Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen
88 Seiten | 2020 | EUR 6.00
VSA-Verlag Hamburg 2020
ISBN 978-3-96488-061-1
Bestellungen unter: https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/ein-sokrates-der-ddr/
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„Im Stalinismus
sind viele Subjekte untergegangen,
aber überleben konnte man auch nur als Subjekt.
Im Kapitalismus kann die Mehrzahl nur als Objekt überleben.
Hier ist einfach der härtere Parcours.
Wenn im West-Aquarium mal ein Subjekt auftaucht,
versammeln sich sofort vierzig Therapeuten
und machen es zum Objekt.“
Heiner Müller
Dieter Strützel war Kultur-
und Literaturwissenschaftler, Lektor beim Mitteldeutschen
Verlag, Kultursoziologe an den Universitäten Leipzig
und Jena sowie ab 1990 Vorsitzender der PDS Gera und stellvertretender
Landesvorsitzender der PDS Thüringen. Er wirkte in zwei
politischen Systemen – in beiden gegen den Strom der
Zeit.
Ein Sokrates der DDR, ein Lehrer,
der nicht große Werke schrieb, sondern lieber mit den
„kleinen Leuten“ stritt. Einer, der in seiner
Jugend die Verführbarkeit durch allzu einfache Wahrheiten
am eigenen Leib erfahren und deshalb später einen Satz
von Friedrich Schorlemmer gelebt hat: „Das Stück
zur Wahrheit, das mir selber fehlt, hat gewiss ein anderer.“
So wurde ihm die Wahrheit des anderen wichtiger war als sein
eigenes Besserwissen. Er hat im Alltag des geistigen Lebens
so verunsichernd und so aufregend gewirkt, wie nur wenige.
Es war ihm eine Lust, die Menschen über ihr Woher und
Wohin zu befragen, sie zum Nachdenken über die Gründe
ihres eigenen Treibens zu verführen. Als Cheflektor wurde
er abgelöst, weil er kritische Literatur von Christa
Wolf und Erik Neutsch erscheinen ließ. Als Soziologe
war Strützel den sozialen Wirklichkeiten auf der Spur,
die er von unten zu erkunden versuchte. Mitte der 1980er Jahre
führte er mit seiner Arbeitsgruppe in Jena eine computergestützte
Befragungen von 1.800 Bürgerinnen und Bürgern der
Stadt Jena nach ihren kulturellen Bedürfnissen durch.
Die Ergebnisse wurden nie publiziert. Denn sie zeigten: die
DDR war nicht mehr in der Lage, die Bedürnisse zu befriedigen,
die sie geweckt hatte. Die Produktivkräfte sprengten
die Produktionsverhältnisse, das System musste untergehen.
Ab 1988 wirkte Strützel maßgebend an einem grenzüberschreitenden
Projekt mit: an der gemeinsamen Verständigung von Ökonomen,
Politologen, Juristen, Literatur- und Kulturwissenschaftlern
der Universitäten Jena und Tübingen zu „Lebensweisen
in der DDR“. Dennoch wurde er, wie viele andere, nach
der Vereinigung „abgewickelt“ und mit 57 Jahren
in „Altersübergangsgeld“ entlassen.
Wissenschaft und Politik, Denken
und politisches Handeln, waren für ihn Eins. Sein Wirken
war darauf gerichtet, wie „kapitalbeherrschte Klassen
zu selbstbestimmter Aktion“ finden könnten, und:
Gemeinsam mit jenen, die ein Interesse an gesellschaftlicher
Veränderung haben, politisch aktiv zu werden –
eine Haltung, in der er sich durch die kollektive Lektüre
des Romans „Die Ästhetik des Widerstands“
von Peter Weiss Mitte der 1980er Jahre bestärkt sah.
Als stellvertretendem Vorsitzenden
der PDS Thüringen ging es ihm nach 1990 darum, eine neue
Partei „von unten“ zu formen. Sein Credo war:
Ideen, Konzepte und Strategien im Dialog mit denen zu entwickeln,
die ein vitales Interesse daran haben, die bestehenden Verhältnisse
zu ändern, um ihr eigenes Leben zu gestalten. Oder anders
gesagt: Denken und Handeln in den Nöten des Alltags zu
verankern.
Siehe auch die Bände:
Die Wahrheit des anderen. Texte von
und über Dieter Strützel, Erfurt 2000
und Widerstand wahrnehmen. Dokumente
eines Dialogs mit Peter Weiss, Köln 1993
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