Goethe im
Ringen mit der Saale
(leicht gekürzt)
Neun
Akten im Jenaer Stadtarchiv berichten von einer Jahrtausendflut:
Nach einem besonders strengen Winter, der die Saale ungewöhnlich
tief gefrieren ließ, hatte am 26. Februar 1784 Tauwetter
eingesetzt. Starker Regen brachte zudem die Schneemassen zum
Schmelzen, so daß der Fluß zwei Tage darauf über
seine Ufer trat. Nun aber geriet das „mehrere Ellen
dicke Eis“ in Bewegung, die Schollen rissen Häuser,
Scheunen und Ställe der Saalevorstadt mit sich, verkeilten
sich ineinander, türmten sich wie Mauern auf und drohten
den Strom in die Stadt zu lenken. Schon stand das Wasser bis
zur Oberlauengasse, hatte die Wache davon gejagt und das Schloß
in eine Insel verwandelt.
Am 29. Februar kam der Herzog
aus Weimar, und mit ihm Goethe, der soeben in Ilmenau das
Bergwerk wiedereröffnet hatte. Carl August, heißt
es in einem Bericht, habe es als erster gewagt, „die
gefährlichsten Fluten des reissenden Strohms zu befahren
und sich auf schwachen Kähnen in die Saalevorstadt übersetzen
zu lassen“, wodurch er seine getreuen Untertanen belebte,
ein gleiches zur Rettung ihrer seufzenden Mitbrüder zu
tun.
Das Schlimmste ist das Chaos,
die Kopflosigkeit: „Alles rennt durch einander, die
Vorgesetzten sind auf keine ausserordentlichen Fälle
gefasst, die Unglücklichen ohne Rath und die Verschonten
unthätig“, schreibt Goethe an Frau von Stein. Deshalb
ging der Herzog voran, um die verzagten Bürger aus ihrer
Lethargie zu reißen. Der Freund und Vertraute soll den
Rest regeln. Er bleibt bis zum 4. März, bis das Nötigste
geordnet ist.
Acht Tage später schreibt
ihm Bürgermeister Paulßen aus Jena im Namen seiner
Ratsmitglieder: „Mit dem wärmsten Gefühle
verehren wir und hiesige Bürgerschaft in wahrer Ehrfurcht
die auf Höchst Ihro Herzogl. Durchlaucht huldreichste
Adprobation von Ew. p. zur Erhaltung derer durch ganz außerordentliche
Wassernoth und unglückliche Eisfahrth in die größte
Bedrängniß versetzten Bewohner hiesiger Vorstadt
getroffene besten und glücklichsten Veranstaltungen.
Über den baldigen und erwünschtesten Ausgang Hochdero
ruhmvollen Bemühungen ganz von Freude belebt und über
die herrlichsten, auch geschwindetsen Vorkehrungen eines so
preiswürdigen Ministers von submisser Verehrung ganz
entflammt, würde uns doch der Gedanke beunruhigen, daß
wir nicht im Stande, die Empfindungen unserer dankvollen Seelen
nur mit Worten im gantzen Umfang zu schildern. ... In tiefster
Erniedrigung und Ehrfurcht sind wir bis an das Ziel unserer
Tage / Ew. p. / unterth. gehorsamst / Bürgermeister u.
Rath daselbst.“
Kurz: der hochverehrte Herr
Geheimrat möge sich für die Stadt verwenden und
das Möglichste aus den knappen Kassen des Landes herausschlagen.
Am 30. April eröffnet er dem Bürgermeister im Jenaer
Schloß, daß der Herzog 4000 Taler für die
nötigsten Reparaturen vorschießen werde und durchaus
nicht abgeneigt sei, zerstörte Gebäude zur Hälfte
und Gärten sowie deren Befriedung zu einem Drittel zu
entschädigen. Allerdings müsse man dafür die
aufgelisteten Fälle und deren Umstände noch einmal
durchgehen.
Nach einem zweitägigen
Ortstermin erklärt Goethe, die „Beaugenscheinigung“
und gründliche Untersuchung habe merklich vor Augen geführt,
daß die gewürdigten Schäden den vorgefundenen
nicht gemäß seien und „vielfältig die
Arbitrierung, welche ihren wahren originem nicht in der letzten
großen Eisfarth und Wasserfluth, sondern schon vorher
in dem Alter der Gebäude und sonstigen Ursachen gefunden,
denselben mit in Computation gebracht“.
Im Klartext: Die guten Bürger
hatten versucht, manch älteren Schaden der Katastrophe
unterzuschieben. Aber Goethe, der so wortreich Umworbene,
wollte das Spiel auf Kosten des Herzogs nicht mitmachen. Eine
erneute Beaugenscheinigung im Beisein eines Taxators, eines
sachkundigen Schätzers, wird angeordnet.
Er will nicht nur Schäden
im Nachhinein beheben, vorausschauend gilt es sie zu vermeiden.
Denn fast jedes Frühjahr stieg die Saale bei Jena über
ihre Ufer. So auch schon im Januar 1783. Damals erwies sich,
daß sie über kurz oder lang die Nürnberger,
die heutige Kahlaische, Straße unterspülen würde.
Denn die Saale verlief oberhalb der Rasenmühle in einer
großen Schleife, hatte durch Nebenarme drei Inseln gebildet
und stieß im rechten Winkel auf die Straße, die
bei Hochwasser und Eistreiben eines Tages einstürzen
mußte. Goethe schlug deshalb vor, die Schleife zu durchstechen,
die Strömung des Wassers parallel zur Straße abzuleiten
und die übrigen Flußarme trocken zu legen. Ingenieur-Hauptmann
Castrop, der ihm schon in der Wegebaukommission zur Seite
stand, nahm die Idee auf und entwarf einen entsprechenden
Plan, der im Mai 1783 verwirklicht wurde.
Die Kosten des Durchstichs
beliefen sich bis zum August auf 578 Taler, von denen knapp
ein Viertel die Anlieger übernehmen sollten, während
der Rest vom Herzog aus der Kammerkasse gezahlt und unter
„Verbesserungen im Lande“ verbucht wurde. Doch
die meisten Anlieger wollten ihren Teil nicht leisten, obwohl
der Bau ihre Wiesen und Gärten sichern half. Eine bittere
Erfahrung für den Geheimrat, die gewiß seine distanzierte
Haltung zu den Hochwasserschäden von 1784 mitbestimmt
hat. Inwieweit dabei auch der Durchstich zu Schaden kam, ist
nicht überliefert. Noch mehrfach wird er erneuert, bis
1790 die Arbeiten fertig sind und die Straße als gesichert
gilt. Seitdem fließt die Saale in ruhigem Bogen zum
Wehr an der Rasenmühleninsel hinab.
Übrigens erhebt
sich auf den damals gewonnenen Wiesen heute das Stadion des
Fußballclubs „Carl Zeiss“. Wer auf dem Weg
dahinter zum Schleichersee wandert, kommt an einem geschützten
Biotop vorbei – dem letzten Zeugen für den einstigen
Flußverlauf. So lebt man in Jena mit Goethes Spuren,
ohne sie zu ahnen.
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