Kaisersaschern?
Die mythische Mitte Deutschlands
In
den Jahren größter Bedrängnis, da er das Land
seiner Geburt in Schuld und Asche versinken sah, stieg in
Thomas Mann ein Sinnbild dieser untergehenden Welt auf: Kaisersaschern,
eine Stadt “mitten im Heimatbezirk der Reformation”
gelegen, im Herzen der Luther-Gegend, südlich von Halle,
gegen das Thüringische hin, mit Schloß und Dom,
schon in seinem äußeren Bilde etwas stark Mittelalterliches
bewahrend.
“Die alten Kirchen, die treulich konservierten Bürgerhäuser
und Speicher, ..., baumbestandene Plätze, mit Katzenköpfen
gepflastert, ein Rathaus, im Baucharakter zwischen Gotik und
Renaissance schwebend, ... – dergleichen stellt für
das Lebensgefühl die ununterbrochene Verbindung mit der
Vergangenheit her ...”
So lesen wir mit Hochgenuß und Bedenklichkeit, denn:
“in der Luft war etwas hängengeblieben von der
Verfassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten
des 15. Jahrhunderts ...” Etwas Bedrohliches haftet
dem Idyll an, in dem Thomas Mann seinen “Dr. Faustus”
aufwachsen läßt, den Tonsetzer Adrian Leverkühn,
das Genie, das sich dem Teufel ergibt, weil es mit herkömmlichen
Mitteln in der Kunst kein Fortkommen mehr sieht.
Literaturgeschichten haben uns daran gewöhnt, Kaisersaschern
in Naumburg zu verorten und den Roman als ein Gleichnis auf
Friedrich Nietzsche zu lesen, auf den großen Stiefsohn
der kleinen Saalestadt. Obwohl es in Naumburg nie ein Schloß
gegeben hat. Es gab eine markgräfliche Burg, ein “Schlößchen”
am Markt, das erst dem Messehandel, später dem evangelischen
Bischof diente, und daneben die bescheidene “Residenz”
des Herzogs Moritz von Zeitz, aber kein wirkliches Schloß.
Auch das Grabmal von Otto III., dem deutschen Imperator, der
von Rom aus die christliche Welt zu vereinen suchte, findet
sich nicht im Naumburger, sondern im Aachener Dom.
Nein, Kaisersaschern ist nicht Naumburg, das im Roman ausdrücklich
neben jener Stadt existiert, in der des Kaisers Asche noch
glimmt, in der die “Hysterie des ausgehenden Mittelalters,
etwas von seelischer Epidemie” noch spürbar sei.
Und auch der Leverkühnsche Hof Buchel beim Dorf Oberweiler
nahe Weißenfels nichts mit Röcken zu schaffen,
in dessen Pfarrhaus Nietzsche 1844 geboren wurde. Seine Vorfahren
waren keine Landwirte und sein Vater hat, soweit die Quellen
es belegen, nie “in den elementa spekuliert”.
Das klingt nun schon nach Besserwisserei und scheint gänzlich
die künstlerische Freiheit zu vergessen. Allein es ging
ja Thomas Mann nicht um bloßes Fabulieren. Sein “Faustus”
soll eine Verdichtung deutscher Geschichte sein, so symbolisch
wie Goethes Theaterheld: Ein Gleichnis für den katastrophalen
Irrweg eines ganzen Volkes, dessen Anfänge Thomas Mann
im ausgehenden Mittelalter erblickt - im Protestantismus als
einer Brücke nach vorn und zurück, zu neuzeitlicher
Selbstbestimmung und fortgesetzter Teufelsseherei. So stellt
der Roman die Diagnose einer Volkskrankheit: der Verkehrung
von Tatkraft in Innerlichkeit, einer Kompensation von weltscheuer
Einigelung vor allem Fremden durch romantische Sehnsucht nach
universaler Einheit, die zur Musik und Spekulation drängt.
Aus Thomas Manns lebenslänglicher Auseinandersetzung
mit dem eigenen “Deutschtum” erwuchs ein großer,
wohl der “deutscheste” aller deutschen Romane:
voll bitterer Selbstabrechnung und heiter ironischem Spiel,
modern arrangiert und zugleich spekulativ altertümlich
tönend, als spräche ein Zeitgenosse Luthers zu uns
über vier Jahrhunderte hinweg.
Und dennoch, oder gerade deshalb, ist die Frage erlaubt und
notwendig, inwieweit Kaisersaschern, das großartige,
in sich stimmige Symbol einer verhängnisvollen seelischen
Kontinuität, des Verhaftetseins in “altdeutschem
Provinzialismus”, die wirkliche Mitte Deutschlands trifft
und mit ihr das Phänomen Friedrich Nietzsche erklärt.
Oder umgekehrt: Ob nicht ein Nachspüren seines authentischen
Lebens und Schreibens in dieser Region auch eine andere Deutung
des Vergangenen erlaubt?
Reisen wir auf den Spuren Nietzsches durch Mitteldeutschland,
ins Labyrinth unserer eigenen Geschichte.
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